Die Ansässigmachung der Juden – Der lange Weg zu Bürgerrecht, Selbständigkeit und Ehe
Wie im letzten Artikel schon erläutert, hatte das im Jahre 1813 von König Max Joseph erlassene bayerische Judenedikt u.a. das Ziel die jüdische Bevölkerung Bayerns nicht weiter anwachsen zu lassen. Als Instrument zur Bevölkerungskontrolle dienten hierbei die Matrikeln. Ein jüdischer Mann durfte nur eine eigene Familie gründen und einer selbständigen Berufstätigkeit nachgehen, wenn er immatrikuliert war. Entsprechend musste eine jüdische Frau einen Ehemann finden, der über einen eigenen Eintrag in der Matrikel verfügte.
Der Prozess, eine eigene Matrikelstelle zu erhalten, verbunden mit einer Konzession und dem Bürgerrecht, wurde damals als Ansässigmachung bezeichnet. Auch Christen mussten ein Gesuch stellen, um sich an einem Ort ansässig machen und einen eigenen Betrieb eröffnen zu dürfen, wobei die angestrebte wirtschaftliche Tätigkeit bei der Bewerbung von entscheidender Bedeutung war. Für Juden gestaltete sich die Ansässigmachung allerdings wesentlich schwieriger, da nur eine begrenzte Zahl an Matrikelnummern in jeder Stadt mit einer jüdischen Gemeinde zur Verfügung stand. Die vorhandenen Plätze waren daher hart umkämpft. Für Christen war die Ansässigmachung dagegen nicht mit dem Bemühen um einen Eintrag in eine Matrikel verbunden. Wie langwierig der Prozess der Ansässigmachung für einen Juden sein konnte, soll ein Blick auf Siegmund Würzburger deutlich machen.
Siegmund (1815-1867) war der zweitälteste Sohn des Bayreuther Kaufmanns Jacob Würzburger (1775-1846). Jacob war Schnittwarenhändler, d.h. er verkaufte Stoffe und teilweise auch fertige Kleidungsstücke. Zwischen 1829 und 1832 machte Siegmund seine Lehre im Geschäft seines Vaters. In den nachfolgenden Jahren war er dann in mehreren anderen Orten als Handlungscommis tätig, also als kaufmännischer Angestellter. Unter anderem arbeitete er in Meiningen bei den Rombergs, der Familie seiner Mutter Philippine. Diese Tätigkeit war für Siegmunds spätere Ansässigmachung notwendig. Drei Jahre Arbeitserfahrung in auswärtigen Handlungen galten als Voraussetzung für seine Ansiedlung in seiner Heimatstadt. Im Jahre 1847 kehrte Siegmund wieder nach Bayreuth zurück. Dort legte er am 25. Februar 1847 die Gewerbeprüfung mit der Note „gut“ ab und sicherte sich somit die Qualifikation „zum selbstständigen Betrieb eines Schnitt- und Modewaarenhandlungsgeschäfts“.
Am 18. Februar 1847 meldete sich Siegmund Würzburger zur Gewerbeprüfung in Bayreuth an. Eine Woche später legte er die Prüfung mit Erfolg ab, wie dieses Zeugnis bescheinigt.
Um jedoch ein eigenes Geschäft eröffnen zu können, musste Siegmund nun aber unbedingt eine eigene Matrikelnummer bekommen. Am 14. Oktober 1847 stellte er sein erstes Ansässigmachungsgesuch an den Stadtmagistrat Bayreuth. Zunächst musste er eine freie Matrikelstelle finden, die er für sich in Anspruch nehmen konnte. Tatsächlich war auch eine Matrikelstelle frei geworden, nämlich die Nummer 42 der Familie Herzstein. Das war allerdings noch nicht alles. Eine Ansässigmachung war immer vom angestrebten Beruf des Bewerbers abhängig. Um die offene Matrikelstelle zu bekommen, musste Siegmund die Stadtverwaltung davon überzeugen, dass die Eröffnung einer neuen Schnittwarenhandlung in Bayreuth sinnvoll war. Aus diesem Grund verwies er darauf, dass die Konzessionen der ebenfalls jüdischen Familien Arnheim und Gunzenhäuser für Geschäfte dieser Branche erledigt waren. Wenn zwei Schnittwarengeschäfte vor kurzem geschlossen wurden, war doch Platz für einen neuen Laden, meinte er.
Über alle Ansässigmachungsgesuche, nicht nur der Juden, in der Stadt Bayreuth entschieden drei Gremien: der Stadtmagistrat, die Gemeindebevollmächtigten und der Armenpflegschaftsrat. Letzterer scheint den Ausschlag bei der Entscheidung gegeben haben, Siegmund die Ansässigmachung zu verweigern. Zu den Aufgaben des Armenpflegschaftsrats gehörte die Aufsicht über den Nahrungsstand der Beschäftigten in der Stadt. Er sollte darauf achten, dass alle Bürger mit ihren Familien einen gesicherten Lebensunterhalt hatten. Im Falle Siegmund Würzburgers stellte er nun eine „immer wachsende Abnahme des Nahrungsstandes der bereits conzessionierten Kaufleute“ in Bayreuth fest. Der Armenpflegschaftsrat war also der Meinung, dass es schon genug Schnittwarenhändler in der Stadt gab und die Zulassung eines weiteren zu einem Überangebot und folglich zur Verarmung der ganzen Branche führen konnte. Aufgrund dieser Beurteilung erklärte der Stadtmagistrat, man müsse sich am „Princip der Nothwendigkeit einer Verminderung der bestehenden Conzessionen“ orientieren. Damit war Siegmunds Ansässigmachung vorerst vom Tisch.
Zu den Unterlagen, die Siegmund seinem Gesuch beifügen musste, gehörte auch ein Nachweis darüber, dass er von der Militärpflicht befreit war. Auf der linken Seite dieses Militärentlassungsscheins ist Siegmunds Aussehen genau festgehalten.
In den folgenden Jahren versuchte Siegmund immer wieder seine Ansiedlung zu erreichen. Dabei bemühte er sich auf unterschiedliche Weise, die Einwände des Stadtmagistrats gegen die Verleihung der Konzession zu entkräften. Am 6. Juli 1850 stellte er ein neues Gesuch, diesmal wollte er aber sein Schnittwarengeschäft mit einem Kurzwarenladen verbinden. Er argumentierte, es gäbe in Bayreuth nur den Kurzwarenladen der jüdischen Familie Karpeles. Ein weiteres Kurzwarengeschäft wäre der Branche sicherlich nicht abträglich. Außerdem fügte er hinzu, selbst vom Schnittwarenhandel alleine könne „sich ein neu zu conzessionierender Kaufmann recht gut ernähren“. Die städtischen Gremien sahen das offenbar anders und lehnten erneut mit der Begründung ab, dass es schon genug Schnittwarenläden gäbe. Die Verbindung mit einem Kurzwarenhandel änderte daran nichts. Sie gestanden Siegmund allerdings ausdrücklich zu, dass er alle gesetzlichen Anforderungen erfüllte und die Sorge um den Nahrungsstand das einzige Hindernis war.
Sein nächstes Gesuch richtete Siegmund am 13. Mai 1851 an den Stadtmagistrat. Als Anlass für die Erneuerung seines Gesuchs diente ihm die jüngste Verleihung einer Konzession für den Schnittwarenhandel an Johann Teufel. Siegmund legte in seinem Gesuch feierliche Verwahrung gegen diese Entscheidung ein und meinte, er sei seit Jahren der erste Bewerber für eine Konzession dieser Art. Mehrere Bayreuther Schnittwarenhändler richteten aufgrund dieser Verleihung eine Beschwerde an den Stadtmagistrat und erinnerten ihn, dass die schlechte Konjunktur keine Neuzulassungen in ihrer Branche erlaubte. Tatsächlich hatte Teufel nur den Damenputz verkaufen wollen, den seine Frau in Heimarbeit fertigte. Warum er eine viel umfassendere Schnittwarenhandelskonzession erhalten hatte, ist unklar. Siegmund schaltete den angesehenen jüdischen Rechtsanwalt Dr. Arnheim ein, der in einem Schreiben an die Regierung von Oberfranken die Entscheidung des Stadtmagistrats als „Unfug“ bezeichnete. Für damalige Verhältnisse war die Klage sehr scharf formuliert. Letztendlich wurde die Konzession Teufels vom Schnittwarenhandel auf ein wesentlich kleineres Sortiment beschränkt, Siegmund erhielt aber wiederum keine Konzession.
Am 25. Oktober 1853 versuchte Siegmund es erneut. Dieses Mal wollte er zwar wieder eine Schnittwarenhandelskonzession erlangen, erklärte sich aber bereit, kein neues Geschäft zu eröffnen. Stattdessen wollte er zum Geschäftspartner seiner Mutter im Familiengeschäft werden. Schon seit seiner Rückkehr nach Bayreuth im Jahre 1847 arbeitete er im Schnittwarengeschäft, das seine Mutter Philippine nach dem Tod seines Vaters Jacob übernommen hatte. Faktisch leitete er das Geschäft sogar zusammen mit seinem jüngeren Bruder Moritz, nur die Konzession gehörte der Mutter. Der Stadtmagistrat lehnte aber erneut ab, da er eine Geschäftspartnerschaft als Privatsache betrachtete und eine Konzession dafür nicht notwendig war.
Eine Zusammenfassung von Siegmunds Konzessionsgesuch aus dem Oktober 1853. Der Stadtmagistrat erfasste in diesem Protokoll alle wichtigen Daten zum Bewerber, seiner Lehre, Wanderschaft, Gewerbeprüfung und Militärdienst.
Sein letztes Gesuch verfasste Siegmund am 13. April 1854, da er erfahren hatte, dass Löw Meyer auch ein Gesuch um eine Schnittwarenhandelskonzession gestellt hatte. Ein letztes Mal listete er all die Argumente auf, die für ihn als Bewerber sprachen: sein Alter von schon 39 Jahren, seine Erfahrung in der Leitung des Ladens seiner Mutter, sein angespartes Vermögen und nicht zuletzt die Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat. Der Armenpflegschaftsrat sprach sich zwar erneut gegen die Verleihung der Konzession aus, letzten Endes gab der Stadtmagistrat aber doch Siegmund den Vorzug vor seinem jüngeren Mitbewerber. Am 30. Mai 1854 fiel die Entscheidung. Siegmund zahlte die 60 Gulden Gemeindeaufnahmegebühren, leistete seinen Eid auf König und Verfassung Bayerns und erhielt zur Legitimation gemäß Judenedikt einen Auszug zu seiner Matrikelnummer 37. Nach sieben Jahren der Mühe und Unsicherheit hatte Siegmund nun endlich das Bürgerrecht erlangt und konnte sein eigenes Geschäft eröffnen.
Das Protokoll über die Ableistung des Staatsbürgereids durch Siegmund Würzburger. Zu sehen ist auch der genaue Wortlaut seines Eides, den er „bei Adonai, dem Gott Israels“ schwor.
- Akte StadtABT, Nr. 3715 Ansässigmachung Siegmund Würzburgers.
- Akte StadtABT, Nr. 11669 Ansässigmachungs- und Verehelichungs-Gesuch des Handlungscommis Johann Teufel.
- Edikt vom 10. Juni 1813 über die Verhältnisse der jüdischen Glaubensgenossen im Königreiche Baiern, in: Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1813, München 1813, 921-932, abgerufen unter: https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/URWKQP7MCLTQWLVSWR7JAQSLFDNDWITP?query=k%C3%B6niglich-baierisches+regierungsblatt%2C+1813&thumbnail-filter=on&isThumbnailFiltered=true&rows=20&offset=0&viewType=list&firstHit=URWKQP7MCLTQWLVSWR7JAQSLFDNDWITP&lastHit=lasthit&hitNumber=1 (Stand: 13.07.2021).
- Mehler, Richard: Die Matrikelbestimmungen des bayerischen Judenediktes von 1813. Historischer Kontext – Inhalt – Praxis (Franconia Judaica, 6), Würzburg 2011.